Ilko-Sascha Kowalczuk in Erfurt – für Demokratie und Freiheit mit den Mitteln des Wortes
Ein Hauch von Geschichte lag in der Luft am Abend dieses 26. September in Erfurt. 200 Menschen wollten Ilko-Sascha Kowalczuk sehen und hören. Nach zwei bewegenden Stunden gab es eine lange Schlange beim Signieren von „Freiheitsschock“, Hände wurden geschüttelt und Fotos mit dem Historiker gemacht.
Angesichts des Desasters bei der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags hatte Kowalczuk die Zusammenkunft gleich anfangs zur Tat für „Demokratie und Freiheit mit den Mitteln des Wortes“ erhoben. Auf Facebook und X schrieb er am Morgen danach:
„Danke an die Stiftung Ettersberg – Gedenkstätte Andreasstraße, die Landeszentrale für politische Bildung Thüringen und die Evangelische Akademie Thüringen für einen intensiven Abend in der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt Erfurt. Der Saal war super gefüllt, auch die Treppen und sonstige Nischen reichten kaum. Der Debattenbedarf über den Zustand unseres Landes ist riesengroß – gerade gestern nach dem erwarteten Debakel im Landtag Thüringens.
Die Historikerin Dorothee Wierling führte mit mir ein Gespräch über den ‚Freiheitsschock‘. Danke für die tolle Gesprächsführung, die Gastfreundschaft der Veranstalter und die intensive Atmosphäre, für die die vielen Teilnehmer:innen verantwortlich waren. Am meisten beeindruckten mich zwei junge Abiturientinnen, die sich im vollen Saal ein Herz fassten und ihre Sorgen über den Zustand der Demokratie zum Ausdruck brachten*.
Christian Dietrich, von 2013 bis 2018 Landesbeauftragter des Freistaats Thüringen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, postete noch am gleichen Abend:
„Da wurde nicht zu viel versprochen. Heute wurde in Erfurt Geschichte geschrieben. Ilko-Sascha Kowalczuk hat im Gespräch mit Prof. Dr. Dorothee Wierling sein Buch ‚Freiheitsschock‘ – in wenigen Tagen wieder zu erwerben (nun 6. Auflage) weiter ‚geschrieben‘. Nein nicht seine großen Werke – sondern der Freiheitsessay – bewegt. Trotz des Regens kamen so viele Menschen in den Kubus der Stiftung Ettersberg – Gedenkstätte Andreasstraße, dass viele nur noch auf der Treppe zur Ausstellung im ersten Stock Platz fanden“.
Gehört die Wut der Bürger zu den Diktaturfolgen?, wie D. Wieling vermutet, da die dauernde Entwürdigung in der SED-Diktatur nicht zugegeben werden konnte und so auch nicht bearbeitet, oder ist das fehlende Wertesystem, das die Diktatur durch Gewalt und Lüge erzeugte, eine ihrer Ursachen, die nur durch aktive Verantwortungsübernahme und damit eigenen Wertekanon (und Selbstwirkungserfahrungen) überwunden wird?
Es wurde viel geklatscht – nicht nur aus Zustimmung, sondern wohl auch aus Dankbarkeit, für die Pointen und beispielsweise die klare Beschreibung des BSW als Partei neuen Typs.
Besonders eindrücklich und emotional wurde es, als Ilko-Sascha Kowalczyk beschrieb, wie er in Distanz zu seinem Vater und mehr noch zum Staat und der Gesellschaft seiner Eltern geriet. Und er beschrieb eindrücklich, wie die Liebe seiner Mutter trotz oder gerade aufgrund ihrer Hilflosigkeit gegenüber den Demütigungen gegenüber ihrem Sohn durchtrug. Alles fing damit an, dass er sich mit 15 Jahren nicht mehr vorstellen konnte, Offizier zu werden, wofür er wenige Jahre zuvor eingeplant wurde. Nun wurde ihm klargemacht, dass er ein Schmarotzer sei, und schon so viel vom SED-Staat bekommen habe. In seiner Not erklärte er, er werde alles auf Heller und Pfennig zurückzahlen und sagte dann verschmitzt, das mache ich ja auch seit 1990.
Über die Zusammenhänge schrieb er in Freiheitsschock im Anschluss an Uwe Johnsons ‚Versuch, eine Mentalität zu erklären‘ – Seiten, die wohl zukünftig in Schulbücher gehören. Ja, die Freiheit, kann in der Freiheit verraten werden. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte davon Martin Luther 1521 in Erfurt gepredigt.“
Dem bleibt noch hinzuzufügen: Wie in den Beschreibungen seines Buches wechselte Kowalczuk in Erfurt zwischen Empathie zu Trotz. Mehr als in „Freiheitsschock“ kam dabei seine Empathie für die „Diktaturgeschädigten“ – zu denen er sich selbst rechnet – und für diejenigen, die den „Transformationsschock“ der 1990er Jahre nur schwer verkraftet haben, zum Tragen. Sein Trotz galt und gilt primär den Extremisten, die mit den daraus resultierenden Gefühlslagen und Vorstellungen ihr politisches Geschäft machen.