Spaltung hat Tradition, aber keine Zukunft
175 Jahre Erfurter Unionsparlament - ein Anlass zum Diskutieren! Eröffnung der Augustinerdiskurs-Reihe durch Anja Zachow (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen). Foto: (c) Rohloff/EAT Sebastian Thieme und Tilman Reitz (v.l.n.r.) stellen sich im Augustinerkloster zu Erfurt den Fragen des Publikums. Foto: (c) Rohloff/EAT Das Publikum brachte die eigenen Eindrücke in die Diskussion ein. Beklagt wurde v.a. die Einseitigkeit und Rohheit des gesellschaftlichen Umgangs. Foto: (c) Rohloff/EAT Tilman Reitz ist Professor für Wissenssoziologie und Gesellschaftstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Foto: (c) Fehlberg/EAT Sebastian Thieme ist Wissenschaftlicher Referent für Ökonomie an der Katholischen Sozialakademie Österreichs in Wien. Foto: (c) Fehlberg/EAT
Wie konnte es dazu kommen, dass der Zusammenhalt und die Demokratie in Gefahr geraten? Wie schlimm es tatsächlich um unsere Gesellschaft steht, was sie hoffen darf und welche versöhnlichen Wege sie einschlagen könnte: Am ersten Abend „Gespaltene Gesellschaft?“ der Augustinerdiskurs-Reihe anlässlich 175 Jahre Erfurter Unionsparlament stand am 10. April 2025 zunächst eine Bestandsaufnahme der Lage auf dem Programm.
Die Reihe wird am 24.04. mit einer Diskurswerkstatt für die „Zukunft Zivilgesellschaft“ fortgesetzt und legt am 28.04. den Fokus auf Bedingungen und Möglichkeiten der „Demokratie im Osten“. Am 29.04. schließt die Reihe im Augustinerkloster mit einem historisch-demokratischen Stadtrundgang in Erfurt ab.
„Es gibt keinen normalen Diskurs mehr!“
Über die Symptomatik der gespaltenen Gesellschaft waren sich die etwa 40 Anwesenden im Augustinerkloster einigermaßen einig: Es gebe „keinen normalen Diskurs mehr“, d.h. keinen auf Gegenseitigkeit beruhenden Austausch und keine Diskussion auf Augenhöhe und in Gleichberechtigung, wie es eine Stimme aus dem Publikum auf den Punkt brachte. Einseitigkeit und Anmaßung führten auf allen Seiten buchstäblich nur zu Auseinandersetzung und tiefen Verletzungen. Eine Spirale beginnt – „verletzte Menschen verletzen Menschen“, wie der Rapper und Sänger Montez das auf den Punkt bringt.
Die Ursachensuche aber führte – wie kaum anders zu erwarten – zu sehr unterschiedlichen Antworten. Viele Ostdeutsche sehen die Entwicklung nach 1989 und die bis heute ausgebliebene Innere Einheit als Ursache. Nicht wenige Westdeutsche allerdings auch – nur unter anderen Vorzeichen. Die verstärkte Zuwanderung und ihre Bewältigung, überbordende Bürokratie, Moralismus und Bevormundung durch selbsternannte Eliten oder ein eher autoritäres Management der Corona-Pandemie: Diese Erklärungen sind gleichmäßig gesamtdeutsch weit verbreitet. Das für viele noch vertraute Wort der „inneren Einheit“ macht immerhin deutlich, dass vielfältige „Wir gegen Die“-Verkürzungen nichts Neues sind.
Alte Bruchlinien, neue Risse: Spaltungstendenzen haben Tradition
Als Anreger einer analytischen Material- und Ursachensuche war Tilman Reitz von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena als Hauptvortragender des Abends zuständig. Für die Einordnung der deutschen Gemüts- und Gemengelage nahm der Soziologe zunächst die sozialgeschichtliche Entwicklung in den Blick.
Historische Bruchlinien zwischen Stadt und Land, Arbeit und Kapital, Privilegierten und Unterprivilegierten, Konservativen und Progressiven hätten in den letzten Jahrzehnten seit 1989 zwar neue Ausprägungen und Fortsetzungen erfahren; wie etwa diejenigen von „westdeutsch“ und „ostdeutsch“ oder „Linksgrünversiffte“ und „Nazis“. Im Grunde existieren derartig unversöhnliche Gegensätze jedoch, seit sich die moderne Gesellschaft im Zeitalter von Aufklärung und bürgerlicher Revolution zu rechtlicher Privatautonomie, Demokratie und zur Industrialisierung aufschwang.
Was aber wirklich neu sei, so Reitz, sei die politische Polarisierung, die sich im Wandel des deutschen Parteiensystems und im erfolgreichen Aufkommen einer rechtspopulistischen bis rechtsextremen Partei wie der AfD zeige. Zumindest in diesem Bereich bestätige sich die als „neu“ wahrgenommene Diskursverhärtung.
Ursachenforschung: Sozial-ökologische Wachstumskrise und Verteilungskämpfe
Als Sozialwissenschaftler schafft es Reitz mit sympathischer Nüchternheit, die Ursachenforschung über die deutsche Tagespolitik und ihre Vorfeldgefechte hinaus zu treiben. Global betrachtet seien es das Ende des unbegrenzten Wachstums und vor allem die daraus folgenden ökonomisch-ökologischen Verteilungskämpfe, die modernen demokratischen Gesellschaften – nicht nur der deutschen – zu schaffen machten.
Das „Ende des Wohlstands“, das „Ende des Planeten“ und andere apokalyptische Zukunftsbilder: Diese Befürchtungen einten unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen nicht nur in der Beschränktheit ihrer Wahrnehmung, sondern auch in der Radikalität ihrer Lösungen. Ihre Vorstellungen vom guten Leben seien nur auf Kosten anderer umzusetzen, es müsse also Gewinner und Verlierer geben. Dass aber statt der Furcht die Hoffnung die konstruktivere soziale Einigungskraft sei, habe schon der Philosoph und Ethiker Baruch de Spinoza erkannt, so Reitz.
Ökonomischer Zwischenruf: Marktfundamentalismus als Denkgefängnis
Sebastian Thieme, seinerseits Ökonom von der Katholischen Sozialakademie Österreichs in Wien und der zweite Vortragende des Abends, machte in seinem Zwischenruf deutlich, dass Reitz‚ historische und analytische Feststellungen für ein zukunftsfähiges soziales Leben keineswegs eine beruhigende „Das wird schon!“-Botschaft nahelegten. Hoffnung muss gemacht werden, während Furcht sich fast schon von allein aufdrängt.
Für Thieme ist ein tieferliegender Spaltpilz vor allem der „Marktfundamentalismus“, der den deutschen Diskurs über Wirtschaft und Gesellschaft noch immer tief präge und das Potenzial zur Sprengung demokratischer Legitimität und der Demokratie selbst in sich berge. Der Diskurs in modernen, vom Marktprinzip durchdrungenen Gesellschaften, führe bereits eine verzerrte Sicht der Dinge mit sich, die es zu erkennen und zu korrigieren gelte, wenn man sich den konkreten Spaltungsgräben nähere und echte Hoffnung die positive Bilanz der Analyse sein soll.
Vom Markt zur Menschenverachtung
Zwingendes Nutzen- und Eigennutzdenken, Wettbewerb, Konkurrenz- und Profitmotiv – das sei „Ökonomismus“ in Alltagsmoral und politischen Werthaltungen. Sozialethisch führe damit faktische soziale und ökonomische Ungleichheit zu einer scheinbar objektiv beurteilbaren Ungleichwertigkeit, so Thieme. Von diesem Punkt ließe es sich dann sehr „leicht“ bis zur Gruppen- und Menschenverachtung weiterdenken. Die Nähe libertär-freiheitlicher und menschenfeindlicher Positionen erklärt sich aus diesem Blickwinkel aus der Ideengeschichte einer verkümmerten Vernunft-Idee, die den Nutzen als obersten Zweck setzt.
Die Ökonomisierung der Ethik ziehe denn auch radikale Problemlösungen nach dem Muster von harten, kompromisslosen Geschäftsleuten nach sich. Entweder es gibt einen „Deal“ zu den eigenen Bedingungen oder es gibt Schläge! Der Name Donald Trump fiel öfter an diesem Abend.
Hoffnung statt Furcht: „Kleine politische Predigt“
Tilman Reitz schlug in einer eigens so betitelten „kleinen politischen Predigt“ schließlich vor, der allgegenwärtigen und gesellschaftszersetzenden Furcht die Hoffnung und die Zuversicht des Andershandelnkönnens entgegenzusetzen.
So sei der Begriff des Wohlstands im Sinne der Forschungen Sebastian Thiemes (siehe EAT-Veranstaltung v. 21. Januar 2025) gesamtgesellschaftlich und politisch zu hinterfragen und von seiner „Marktkonformität“ zu lösen. Außerdem sei die wesentliche Rolle unserer ökologischen Daseinsbedingungen angemessen zu berücksichtigen. Schließlich sei die Bedeutung einer öffentlich-gemeinwohlbasierten Regelung von Infrastrukturen wie Rente, Pflege, Wohnen, Mobilität, Bildung u.v.m. in ihrer gesellschaftlichen Bindungswirkung fundamental neu zu bewerten und gegebenenfalls zu korrigieren.
Klares Ziel: Verständigung über das Gemeinsame
Das Fazit des Abends ist weniger eine erbauliche und erlösende Frohbotschaft denn eine klare Ziel- und Aufgabenstellung: die berechtigten Interessen, die von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen geäußert werden, sind in ein demokratisch legitimiertes Gesamtinteresse einzufassen.
Mit Zuhören, Nachvollziehen und Verstehen fängt es an. Auch wenn einem manchmal das Verständnis fehlen sollte, um eine Verständigung über das Gemeinsame kommen wir nicht herum.
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Im Downloadbereich dieses Beitrags finden Sie die Präsentationen der Referenten des Augustinerdiskurses „Gespaltene Gesellschaft?“ (PDF).