Evangelische Akademie Thüringen

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Einsamkeit – eine verborgene Epidemie?

  • Dr. Karl-Heinz Bomberg im Konzertgespräch. Foto: © EAT
    Dr. Karl-Heinz Bomberg im Konzertgespräch. Foto: © EAT
  • Akademiedirektor Dr. Sebastian Kranich eröffnet die Tagung. Foto: © EAT
    Akademiedirektor Dr. Sebastian Kranich eröffnet die Tagung. Foto: © EAT
  • Dr. Janosch Schobin referiert über "Lebenskonstruktionen vereinsamter Menschen". Foto: © EAT
    Dr. Janosch Schobin referiert über "Lebenskonstruktionen vereinsamter Menschen". Foto: © EAT

Tagungsbericht

Diakonie-Chef Ulrich Lilie erklärt Anfang Februar: Wenn wir im Kampf gegen die Einsamkeit nicht vorankommen, dann werden sich Kliniken und Psychiatrien mit kranken Menschen füllen. Da diese nicht arbeiten, ist ein hoher volkswirtschaftlicher Schaden zu erwarten. Zudem sind einsame und abgehängte Menschen empfänglicher für extreme Parteien. Doch steht es wirklich so schlimm? Ist Einsamkeit eine „verborgene Epidemie“ (laut Lilie), die hochansteckend um sich greift?

Oder geht es bei diesem Thema in erster Linie um die Gruppe der Hochbetagten, der einsamen Menschen 80+? Auf letztere ist die Arbeit des Bundesfamilienministeriums ausgerichtet, auch wenn es im Koalitionsvertrag heißt, man werde „Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen.“

Die Tagung „Einsamkeit“ vom 21. bis 23. Februar bewegte sich im hier skizzierten gesellschaftspolitischen Spannungsfeld. Nachdem Akademiedirektor Dr. Sebastian Kranich zu Beginn die Pole der Debatte beschrieben hatte, plädierte der Psychologe Dr. Marcus Mund (FSU Jena) zunächst für Begriffsklarheit: Zu unterscheiden seien a) soziale Isolation als objektiver Mangel an sozialen Beziehungen, b) Einsamkeit als subjektiv negativ empfundenes Gefühl, c) Alleinsein als subjektiv positiv empfundenes Gefühl. In der öffentlichen Debatte und auch in der Politik ginge das oft durcheinander. Deren Maßnahmen richteten sich meist gegen soziale Isolation. Einsamkeit sei aber eher mit den Mitteln von Seelsorge und Psychotherapie zu bearbeiten.

Diese Dimension wurde abends in der Lesung der Theologin, Psychotherapeutin und Autorin Dr. Jutta Kranich-Rittweger (Weimar) deutlich. Vier Erzählungen aus ihrem Band „Die Einsamkeit des Kindes“ brachten im Gespräch manches zutage. Nicht zuletzt ging es um das Schicksal von Obdachlosen sowie den Verlust von Vätern im Krieg und um transgenerationelle Weitergabe von Verlassenheitsgefühlen.

Am zweiten Tag der Tagung bestätigte der Soziologe Dr. Janosch Schobin (Universität Kassel) den Forschungsstand der Psychologie: Anders als vielfach vermutet gibt es keine messbare Zunahme von Einsamkeit als Gefühl in Westeuropa. Allerdings machten moderne Gesellschaften sozial isolierter, so seine Auskunft. Vor allem sei Einsamkeit – anders als etwa in Lateinamerika – hier schambesetzt und könne kaum öffentlich benannt werden. Das Problem sei: Einsamkeit werde sozial exkludiert. Zudem schwächten sich in westlichen Gesellschaften die starken familiären und traditionellen Bindungen ab, so dass Menschen im höheren Alter zunehmend allein mit ihrer Einsamkeit wären.

Auf die Wissenschaft folgte die Praxis. Im anschließenden Podiumsgespräch wurden zwei unterschiedliche Praxis-Strategien anschaulich. Pfarrerin Dorothee Herfurth-Rogge (Leiterin der Telefonseelsorge Halle und Vorsitzende der Evangelischen Konferenz für TelefonSeelsorge Deutschland) stellte den Charakter dieser Arbeit vor, der auf garantierter Anonymität fußt und primär seelsorgerlich ausgerichtet ist. Pfarrer Martin Möslein (Erfurt) präsentierte die Projektidee von „Sempers“ (Senioren mit Perspektive im Erfurter Norden) dagegen als primär gegen soziale Isolation und auf den Face-to-Face-Kontakt ausgerichtet: Alte Menschen im Neubaugebiet sollen einmal pro Woche für eine Stunde besucht werden.

In vier Gesprächsgruppen ging es dann um eigene Erfahrungen von Einsamkeit, aber auch darum, wie Projekte gegen Einsamkeit erfolgreich arbeiten und sich vernetzen können. Wie kann etwa in der Telefonseelsorge in Gesprächen auf ein Projekt wie „Sempers“ hingewiesen werden? Wie kann – anders herum – alten, sozial isolierten Menschen die über 24 Stunden am Tag bestehende Möglichkeit eines Anrufs bei der Telefonseelsorge vermittelt werden?

Der zweite Tag klang aus mit einem Konzertgespräch. Der Psychiater und Liedermacher Karl-Heinz-Bomberg (Berlin) präsentierte Lieder, in denen er nicht zuletzt seine eigene DDR-Hafterfahrung verarbeitet. Besonders eindrücklich war der Auftritt von Kathrin Begoin (Weimar), die Isolation, Unterdrückung und Missbrauch im Jugendwerkhof erlebt hat und in ihren Liedern den Opfern eine Stimme gibt.

Der Sonntag war schließlich Formen von einsamem Leben gewidmet, die Menschen selbst suchen. Sei es um kreativ zu sein, sei es aus spirituellen Gründen. Der Film „Einsiedler -– Allein ist nicht genug“ porträtierte vier von ca. 90 Männern und Frauen, die in Deutschland als Eremiten leben. Hier war es besonders interessant zu sehen, wie Menschen, die den Rückzug leben, zugleich intensiv für andere da sind. Das gilt auch für das Leben im Kloster, das der ehemalige Mönch und Politikwissenschaftler Dr. Bernhard Heider (Universität Regensburg), nahebrachte, der zugleich lange als Lehrer arbeitete und jetzt als Dozent in der politischen Philosophie über Gemeinschaft und Gesellschaft forscht und lehrt.

Kann Einsamkeit auch verbinden? So lautete eine Frage in der Einladung zur Tagung. Über 50 Teilnehmende gaben darauf die Antwort: Ja.