Evangelische Akademie Thüringen

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Podium: Wie Migration Ostdeutsche und ihr Land geprägt hat

  • Auf dem Podium: Moderatorin Dr. Ulrike Schulz, Dr. Uta Bretschneider, Elisa Calzolari, Dr. Egon Primas, Doreen Denstädt (v. l. n. r.). Bild: Frank Fehlberg.
    Auf dem Podium: Moderatorin Dr. Ulrike Schulz, Dr. Uta Bretschneider, Elisa Calzolari, Dr. Egon Primas, Doreen Denstädt (v. l. n. r.). Bild: Frank Fehlberg.
  • Ort der Veranstaltung war die zur Stadtbibliothek umfunktionierte Jakobikirche in Mühlhausen. Bild: Frank Fehlberg.
    Ort der Veranstaltung war die zur Stadtbibliothek umfunktionierte Jakobikirche in Mühlhausen. Bild: Frank Fehlberg.
  • Impression vom Veranstaltungsort Stadtbibliothek Jakobikirche in Mühlhausen. Bild: Frank Fehlberg.
    Impression vom Veranstaltungsort Stadtbibliothek Jakobikirche in Mühlhausen. Bild: Frank Fehlberg.

Migration aus und nach Ostdeutschland – dieses Phänomen ist keineswegs so neu, wie es die Kriege in der Ukraine, Syrien und Libyen oder die Armut und Perspektivlosigkeit in Nord- und Zentralafrika uns vor Augen führen. Die Debatten um Zu- und Einwanderung sind so alt wie das Ende des Zweiten Weltkriegs, als etwa 700.000 vertriebene Deutsche aus dem Osten des Deutschen Reiches allein nach Thüringen flüchteten. „In den Westen machen“ blieb zu DDR-Zeiten für viele Verfolgte und Unfreie die einzige Option. Heute betonen selbstbewusste „Viet-Ostdeutsche“ wie die Leipziger Journalistin Nhi Le, dass auch die DDR Zuwanderung kannte und die Geschehnisse von Rostock Lichtenhagen 1992 nicht als Statement „typisch“ ostdeutschen Fremdenhasses stehenbleiben dürfen.

Geschichte und Gegenwart von Migration in DDR und Ostdeutschland diskutierten am 15. November 2023 Dr. Uta Bretschneider (Zeitgeschichtliches Forum Leipzig), Doreen Denstädt (Thüringer Ministerin für Migration, Justiz und Verbraucherschutz), Elisa Calzolari (MigraNetz Thüringen) und Dr. Egon Primas (Bund der Vertriebenen Thüringen) in der Stadtbibliothek Jakobikirche in Mühlhausen. Die Podiumsdiskussion war Teil des Kooperationsprojekts Land. Wirtschaft. Kollektiv. der Evangelischen Akademie Thüringen, dem Thüringer Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Thüringer Staatskanzlei.

Vertriebene Deutsche: Das lange Ankommen in einer „kalten Heimat“

Integration auf dem „platten Lande“ spielte nach dem Zweiten Weltkrieg eine ungleich größere Rolle als heute. Mit 23 % waren fast ein Viertel der Bevölkerung nach dem Krieg Neuthüringer. Integration war nicht die Sache von professionellen Sozialkräften, Behörden und Zivilgesellschaft. Mitmenschen im Alltag und in (zwangs-)kollektivistisch geprägten Arbeitsstrukturen in Bergbau, Industrie und Landwirtschaft bewerkstelligten ein bescheidenes Ankommen. Oft genug sorgten sie mit ablehnender Haltung aber auch für eine „kalte Heimat“ (so der Historiker Andreas Kossert in seinem gleichnamigen Buch). Schon die anfängliche Einquartierung der ankommenden „Umsiedler“, wie sie in der DDR verschleiernd von staatlichen Stellen etikettiert wurden, spielte sich im kriegs- und reparationsbetroffenen Ostdeutschland ungleich dramatischer ab, als es heute und selbst in winterlichen Zeltlagern 2015 zu beobachten war.

Ländliche Räume waren schon deshalb als Integrationsort zentral, weil der Krieg dort Infrastrukturen weitestgehend intakt gelassen hatte und eine bessere Lebensmittelversorgung und Arbeitskraftnachfrage gegeben waren. Ein Zeitzeuge im Publikum berichtete von einer Zwangseinquartierung auf seinem heimatlichen Vier-Seiten-Hof noch vor der DDR-Gründung 1949. Vertreter der sowjetischen Militäradministration seien auf den Hof gekommen, hätten die vorhandenen bewohnbaren Räume aufgenommen und schließlich über die Köpfe der heimischen Bewohner hinweg die Einquartierung von drei weiteren Familien angeordnet. Erst Ende der 1950-er Jahre habe die letzte dieser Familien den Hof in Richtung eigene Wohnung verlassen. Der persönliche Kontakt aber werde teilweise bis heute gepflegt.

Migrationsministerin Doreen Denstädt: Integration kann nicht befohlen werden

Die Thüringer Ministerin für Migration, Justiz und Verbraucherschutz, Doreen Denstädt, betonte, dass in die Debatten über Migration in Ostdeutschland „mehr Kontext“ gehöre. Unter Hinweis auf ihre eigene Biografie sprach sie die Vielfalt der individuellen Hintergründe an. Man solle sich durchaus nicht scheuen, auch einfach mal persönlich nach Herkunftskonstellationen zu fragen, um das Gegenüber nicht blind in eine Schublade zu stecken. Denstädt berichtete von den Erfahrungen in ihrer eigenen Familie – von der Gefangenschaft des Urgroßvaters in Sibirien unter den Sowjets bis zum Austausch der DDR mit „sozialistischen Brudervölkern“ jenseits der „Vertragsarbeit“. Denstädts Vater war als Student aus Tansania in die DDR gekommen.

Die Geschichte der Vertriebenen sei immer noch unzureichend aufgearbeitet, zumal in Hinblick auf die heutigen Herausforderungen, so die Ministerin weiter. Sie gestand ein, dass derzeit vieles besser laufen könnte, die Aufgaben von Unterbringung bis Eingliederung nicht eben die leichtesten seien. Wenn es auch abstrakte Gemeinsamkeiten von Migrationsbewegungen gebe, bedeute das nicht, dass alle historischen Situationen und Ereignisse einfach vergleichbar und gleich zu behandeln seien. Eine „Integration“ auf Anordnung, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, könne es heute in einer freiheitlichen Ordnung nicht mehr geben.

Egon Primas: Von „Gastarbeitern“ in Westdeutschland wurden auch keine Deutschkenntnisse verlangt

Die Diskussionsrunde in Mühlhausen hat Mut gemacht, sich auf den beiden Feldern Migration und Entwicklung ländlicher Lebensräume nicht die Perspektiven nehmen zu lassen. Die Chancen liegen darin, aktiv zu werden und beide Probleme sinnvollerweise gemeinsam in den Blick zu nehmen. Dabei wurde nicht nur auf individuelles Einbringen, ehrenamtliches Engagement und zivilgesellschaftliche Ankommens- und Einbindungsanstrengungen Bezug genommen. Von Seiten des Publikums kam mehrfach die nachdrückliche Forderung, der Staat müsse endlich wieder handlungsfähiger werden und Bürokratie- und Verwaltungshürden abbauen. Vielerorts verhinderten Organisations- und Durchgriffsschwächen praktikable Lösungen, um Möglichkeiten und Wege zu eröffnen.

Insbesondere die Integration durch Arbeit, darauf wies Egon Primas eindringlich hin, müsse erheblich vereinfacht und beschleunigt werden. Seien die einstmals vertriebenen Deutschen noch Binnenflüchtlinge gewesen, was die Integration zumindest kulturell leichter gemacht hätte, müsse heutzutage mit mehr Augenmaß für die Gegebenheiten gehandelt werden. So gehörten die Voraussetzung von Deutschkenntnissen für die Arbeitsaufnahme und die fehlenden Anreize zur Erwerbsarbeit etwa für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine auf den Prüfstand.

Die Veranstaltung bildete den vorläufigen Abschluss der Gesprächsreihe „Land. Wirtschaft. Kollektiv. Wem gehört das Land?“. Diese hatte im April 2023 mit einer Tagung zur Geschichte und Zukunft der ostdeutschen Landwirtschaft im Panorama Museum in Bad Frankenhausen begonnen.